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Juli 2020 Wo ein Wille ist, ist auch eine Lehre

Ihre Schulkameraden nennen sie «Mami». Mit 44 Jahren schliesst Hayat Lienhard Ende Juli ihre zweijährige Lehre als Detailhandelsassistentin bei der Migros Aare ab. Als Klassenbeste.

Inhaltsbild 1 Lienhard

Am Abend nach dem Gespräch zeigt sich, wie gross Hayat Lienhards Dankbarkeit ist. Mehrmals piepst das Handy der Reporterin. Neun Sprachnachrichten treffen ein – jede mit einem Danke von Hayat Lienhard an Menschen, die sie während der Lehre unterstützt haben. Piep. «Ich danke der Berufsbildnerin der Migros Aare.» Piep. «Ich danke dem Marktleiter, Herr Kizilkaya, dass er mir den Schnuppertag und die Lehre ermöglicht hat.» Piep. «Ich danke ... «
Die 44-Jährige bedankt sich nicht nur mit Worten für das Vertrauen, sondern auch mit Taten. Als eine Lehrerin im Lerntechnik-Kurs fragte, wovon die Schüler träumen, sagte Hayat Lienhard: «Von der Note 6 in der Schule.» Die Lehrerin fand, eine genügende Note wäre auch schon gut. Damit stachelte sie Hayat Lienhards Ehrgeiz erst recht an. «Ich habe schon früher gerne gelernt und wollte mir selbst beweisen, dass ich mehr kann. Auch wenn mein Deutsch nicht perfekt ist.» Erste Prüfung im Fach Wirtschaft & Gesellschaft: Note 6. Da wusste Hayat Lienhard: Alles kommt gut. 
 

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Klassenbeste und Mami
Ihr Alter sieht sie auch als Vorteil. «Ich lerne aus eigenem Antrieb, weil ich ein Ziel erreichen will.» Hatte sie am nächsten Tag eine Prüfung, sass Hayat Lienhard sonntags den halben Nachmittag vor den Schulbüchern. «Es sind ja nur zwei Jahre, danach kann ich wieder jeden Sonntag frei machen», sagte sie sich. «Zum Glück machte mein Mann das Ganze mit.» In der Schule war sie Klassenbeste und half ihren jüngeren Kameraden. Gleichzeitig versprühte sie in der Klasse gute Laune. «Manchmal fragten mich meine Kameradinnen, wie man morgens um halb acht so fröhlich sein könne.»
Am ersten Tag hatte Hayat Lienhard noch schräge Blicke ihrer Mitschüler geerntet. «Du könntest unsere Mutter sein», lauteten einige Kommentare. Gleichzeitig bewunderten sie die 42-Jährige für ihren Mut zum Neustart unter lauter Jungen. «Ich habe Glück, dass ich eine offene Person bin», erzählt Hayat Lienhard. «Ich kann es gut mit Leuten.» Angst machten ihr nur die vielen Bücher, die sie am ersten Schultag erhielt. Da dachte sie einen Moment: «Wie soll ich das schaffen?» Ihre Zweifel verflüchtigten sich mit der ersten Bestnote. «Ich lerne sehr viel, um gut zu sein. Super Noten machen mich glücklich.» Heute kämpft die gebürtige Marokkanerin nur noch mit der deutschen Rechtschreibung. 

 

Für die Lehre Feuer und Flamme
Lange hatte Hayat Lienhard immer ohne Diplom gearbeitet. In der Nähe der marokkanischen Hauptstadt Rabat besuchte sie das Gymnasium – ohne Abschluss. Man hätte für eine Ausbildung bezahlen müssen, erzählt sie. In Marokko arbeitete sie ein paar Jahre im Büro einer Früchteplantage; in Spanien wohnte sie mit einer Freundin zusammen und verdiente ihr Geld als Krankenpflegerin; und danach in der Schweiz bei einer Reinigungsfirma, einem Partyservice, als Küchenhilfe oder an der Kasse einer Textilpflege. Als sie erfuhr, dass sie auch in ihrem Alter noch eine Lehre beginnen könnte, war sie so Feuer und Flamme wie für ihren Mann, dem sie 2010 in die Schweiz gefolgt war. 
Hayat Lienhard legte sich ins Zeug. Zuerst während der Schnupperlehre in der Migros an ihrem Wohnort Schöftland, später während der regulären Lehre in dieser Filiale. «Es gab keinen einzigen Tag, an dem ich nicht gerne gearbeitet habe», sagt sie. Dazu strahlt sie so, dass man ihr glaubt. Sie erhielt viel Lob: von Arbeitskolleginnen, vom Chef, von ihrem Mann, von der Familie in Marokko, von Kolleginnen aus dem Samariterverein Schöftland, aber auch von Kunden. «Es gibt mir viel Kraft, wenn mir die Leute sagen, du machst das gut.»
Nun zwei Jahren ihre Lehre und darf sich Detailhandelsassistentin nennen. Als stellvertretende Fachleiterin Brot und Backwaren wird sie künftig in der Filiale im Bahnhof Aarau arbeiten. «Schritt für Schritt will ich bei der Migros Karriere machen.» Doch vorerst wird sie im Sommer – mit dem Diplom in der Tasche – besonders stolz zu ihrer Familie nach Marokko reisen. 
Zwischen all den Dankes-Sprachnachrichten schickt Hayat Lienhard der Reporterin ein Foto. Es zeigt ihre Zeugnisse. Und es beweist: Hayat Lienhard hat es mehr als geschafft. Nämlich mit Bravour.
 

245 LehrabgängerInnen und neue Lernende

Mit rund 12‘000 Mitarbeitenden ist die Genossenschaft Migros Aare (Aargau, Bern, Solothurn) die grösste private Arbeitgeberin der Region. Jährlich werden über 700 Lernende ausgebildet. Ende Juli werden 245 Lehrabgängerinnen und -abgänger aus allen Bereichen der Migros Aare ihre Ausbildung abschliessen.  Anfang August beginnt bereits die nächste Generation Lernende ihre Berufsausbildung in der Migros Aare.